Moses Mendelssohn
Der Jude von BerlinVater: Mendel Heymann
Mutter: Rachel Sara Wahl
Geschwister: Saul, Jente
Als er im Alter von 14 Jahren, um seinem verehrten Dessauer Lehrer zu folgen, nach Berlin einreist, kontrollieren ihn auch jüdische Gemeindevertreter. Sie haben, auf Befehl der Obrigkeit, am Zuzug von Hungerleidern wenig Interesse. In Preußens Residenzstadt entwickelt sich der bettelarme Autodidakt zur Vermittler-Gestalt eines intellektuellen Netzwerkes. Er eignet sich alte und neue Sprachen des Abendlandes an, das Hochdeutsche und den europäischen Bildungskanon; was Konflikte mit den Rabbinern provoziert, die auf kulturelle Abgrenzung setzen. Sein Aufenthaltsstatus verbessert sich durch eine Hauslehrer-Stelle beim Textilfabrikanten Isaak Bernhard, in dessen Firma er bald als Buchhalter wirkt, zum Geschäftsführer, schließlich zum Teilhaber, zum Eigentümer aufrückt. Durch den ungeliebten Brotberuf sichert Moses Mendelssohn – diesen bürgerlichen Namen nimmt der Selfmade-Gelehrte an – sich selbst den Aufenthaltsstatus und seiner Familie den Lebensunterhalt.
Aus Mendelssohns Bekanntschaft mit dem Verleger Friedrich Nicolai und dem Dichter Gotthold Ephraim Lessing entsteht ein Freundestrio, dessen Dispute, Rezensionen, Aufsätze und publizierte Diskussionsforen Kulturgeschichte machen: das Dreigestirn der Berliner Aufklärung. Aus der Eheschließung des 32-jährigen Moses mit der Hamburger Kaufmannstochter Fromet gehen zehn Kinder hervor, sechs überleben. Sein Haus in der Spandauer Straße wird zum Forum für offen diskutierte Meinungsvielfalt, zum Modell der späteren Salons. Moses, der Bestsellerautor, trifft mit seinem „Phädon. Über die Unsterblichkeit der Seele“ ein Thema, das den Zeitgenossen am Herzen liegt. Das vielfach übersetzte Werk macht den „Juden von Berlin“ europaweit berühmt.
Moses Mendelssohn führt Denkansätze von Leibniz und Christian Wolff weiter, über Logik, Mathematik, Religion und die Harmonie der Welt; er hat beim Wettbewerb der Königlichen Akademie den ersten Preis zur Fragestellung nach einer „Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften“ (1763) gewonnen, gegen Kant. Dabei kombiniert er Erfahrung und Vernunft und betont den Primat der Alltagspraxis. Der Ästhetiker und Psychologe Moses möchte die moralische Aufgabe der Kunst als Darstellerin vernünftiger Erkenntnisse und eine Theorie von ihrer Autonomie mit einander verbinden, im „Spiel der Illusion“. Er inspiriert durch Kontakte, Veröffentlichungen, Diskurse und Korrespondenzen die Verbreitung des Toleranzgedankens und der Universalität der Menschenrechte. Seine Ausstrahlung und seine charismatische, integre Persönlichkeit tragen dazu bei. Sein Freund Lessing nimmt ihn zum Vorbild für "Nathan den Weisen" in seinem gleichnamigen dramatischen Gedicht.
Der Kulturtransformator Moses ebnet Glaubensgenossen durch Thora-Übersetzungen den Weg zur Sprache ihrer christlichen Umgebung, zu deren Literatur und Kunst, für die er sich selbst leidenschaftlich interessiert. Als gläubiger Jude und „Weltweiser“ vereinbart er Gesetzesoffenbarung und aufgeklärte Vernunftreligion und motiviert zum Aufbruch aus dem geistigen Ghetto. Als Modernisierungshelfer berät er jüdische Gemeinden im Konflikt zwischen Tradition und Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft; auch preußische Beamte, denen der Abbau von Diskriminierungen wichtig ist. Seine deutschen Bibel-Übertragungen erscheinen in hebräischer Schrift. In seinem Essay „Jerusalem. Über religiöse Macht und Judentum“ ist er der eigenen Epoche mit Überlegungen zur Gewissensfreiheit, zur Trennung von Staat und Glaubensgemeinschaft weit voraus. Bahnbrechend erweist er sich als Vordenker der jüdischen Aufklärungsbewegung Haskala und ihrer Protagonisten, zu denen David Friedländer, Gründer der Jüdischen Freyschule, Isaac Euchel, Herausgeber der ersten hebräischen Zeitschrift „Der Sammler“, der Dichter Hartwig Wessely und der Pädagoge Herz Homberg zählen. Die sich interreligiös öffnenden Reform-Projekte der Haskala tragen bei zur Integration der jüdischen Minderheit: zur Entstehung jener deutsch-jüdischen Moderne, aus deren Erfahrungen sich gesellschaftliche Ideale für die Gestaltung unserer pluralistischen Gegenwart ableiten.
Kontakte zur politischen Macht bleiben für Moses` diskriminierte Generation zwiespältig. Friedrich II. lässt den Gelehrten nach Potsdam rufen, ohne ihn zu empfangen; ihm als Seidenhändler gewährt der König zwar Anerkennung und Bleiberecht, doch dem Philosophen verwehrt er die Akademie der Wissenschaften und verweigert seiner Familie einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Mendelssohn schreibt im Gemeinde-Auftrag Huldigungsverse an den königlichen Hof, scheut sich aber nicht, die Dichtkunst des Monarchen in einer kühnen Rezension zu kritisieren. Den befreundeten Kriegsrat Christian Konrad Wilhelm Dohm inspiriert er zu dem Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1791), das Diskurse in Frankreich und anderen Ländern Westeuropas beeinflusst; auch den Grafen Mirabeau, der sich kurz nach Mendelssohns Tod in Berlin aufhält und eine Schrift über diesen veröffentlicht. In der Menschenrechtsdebatte der Französischen Nationalversammlung wird Mirabeau Berliner Ideen einbringen und umsetzen.
Die Aufforderung des Theologen Lavater, sich taufen zu lassen, weist Moses Mendelssohn zurück – doch löst eine nun anhebende öffentliche Debatte um diese Provokation bei ihm eine siebenjährige Nervenkrankheit aus. Als er, weitere sieben Jahre später, geschwächt durch eine Kontroverse um die Ehrenrettung seines verstorbenen Freundes Lessing, im Alter von 56 Jahren stirbt, gibt ihm Berlins ganze jüdische Gemeinde mit christlichen Freunden und Vertretern des Adels das Geleit, alle Geschäfte haben geschlossen.