Marie Baum
Die Frau der Neuen ZeitVater: Wilhelm Baum
Mutter: Flora Baum
Geschwister: Ernst, Wilhelm, Lotte, Rebecka, Anna
Sie ist promovierte Chemikerin, Sozialarbeiterin- und –Wissenschaftlerin, Frauenrechtlerin und politisch aktiv. In ihren Begabungen und Interessen spiegelt sich das Erbe verschiedener Vorfahren: der naturwissenschaftliche Drang ihres Großvaters Peter Gustav Lejeune Dirichlet, eines berühmten Mathematikers, und ihres Vaters, der aus einer Medizinerfamilie stammt und dessen soziale Empathie; das demokratische, freiheitsliebende Engagement ihrer Großmutter Rebecka Lejeune Dirichlet, geb. Mendelssohn Bartholdy, und ihrer Mutter Flora, die sich für die Frauenbewegung einsetzt, die Bereitschaft zur Grenzüberschreitung. Unter den Nachkommen Moses Mendelssohns gehört sie mit Fanny Hensel, ihrer Großtante, und deren Tante Dorothea Schlegel zu den selbstbewussten Frauen, die gegen Rollenerwartungen der Gesellschaft ihren eigenen Weg finden.
In ihrem Danziger Elternhaus mit dem prächtigen Garten wird „viel politisiert“. Die Mutter und deren Bruder Walter, ein Reichstagsabgeordneter, stehen links, der konservative Vater als Veteran dreier Kriege und Bismarck-Fan will eigentlich apolitisch sein. „Die oft sehr gefühlbetonten Auseinandersetzungen lehrten mich frühe die Bedeutung, aber auch die Schwierigkeit politischer Stellungnahme und den Ernst von Entscheidungen kennen“. Sie besucht Kurse des von ihrer Mutter mitgetragenen Vereins „Frauenwohl“ zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung, die sie in Zürich ablegt, wo sie auch die Künstlerin Käthe Kollwitz und die Schriftstellerin Ricarda Huch kennenlernt und am Polytechnikum studiert.
1896 ist sie diplomierte Fachlehrerin für Naturwissenschaften, arbeitet während der Promotion als 22jährige Assistentin im Laboratorium zur Beaufsichtigung von 60 großteils männlichen Studenten – was zum Konflikt mit der Schweizer Unterrichtsbehörde führt, den Marie Baum besteht. Als Dr. phil. und Chemikerin bewährt sie sich in der Berliner Patentabteilung des AGFA-Konzerns, der von ihrem Verwandten Franz Oppenheim geleitet wird, erkennt aber, dass Wissenschaft zur ökonomischen Optimierung nicht ihren Interessen entspricht. Ab 1902 ist sie für fünf Jahre Fabrikinspektorin in Karlsruhe beim Innenministerium des Großherzogtums Baden. „Ich habe zahlreiche Kinder weit unter der vom Gesetz gezogenen Altersgrenze von 10 Jahren, wohl schon von 4 Jahren aufwärts, blaß und krumm über ihre Arbeit gebückt gesehen ... Die Arbeitszeit der Jugendlichen betrug ausschließlich der Pausen 10 Stunden; für die erwachsenen Männer gab es keinen Maximalarbeitstag ... die Arbeitszeit der Frauen wurde gerade um jene Zeit von 12 auf 11 Stunden herabgesetzt.“ Als Gasthörerin in Heidelberg begegnet sie dem Soziologen Max Weber und der Frauenrechtlerin Marianne Weber, einer Freundin und Mitstreiterin.
In Düsseldorf ist Marie Baum ab 1907 zwölf Jahre lang Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingspflege, setzt sich über viele Jahre im Bund Deutscher Frauenvereine ein und organisiert ab 1914 die Kriegsfürsorge der Stadt. In Hamburg leitet sie mit der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer das Sozialpädagogische Institut. Als Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei gehört sie bis 1921 zum Reichstag der jungen Weimarer Republik; im badischen Innenministerium wird sie Referentin für Wohlfahrtspflege und Regierungsrätin, widmet sich dem Aufbau eines Kindererholungsheims. 1931 führt eine dreimonatige Vortragsreise sie in die USA. Der Lehrauftrag für Wohlfahrtspflege an der Universität Heidelberg wird ihr als „Mischling II. Grades“ 1933 von den NS-Behörden entzogen.
In der Autobiographie „Rückblick auf mein Leben“ beschreibt Marie Baum ihre Scham, dass sie zunächst Widerspruch gegen diese Entlassung eingereicht habe: indem sie „das christliche Bekenntnis der Mendelssohns geltend machte“. Es falle ihr schwer zuzugeben: dass sie eine Zeit lang an dem „Gefühl der mir persönlich auferlegten Diffamierung“ gelitten habe. Doch ihre Entscheidung für das „andere Deutschland“ ist klar. Als sie während des Krieges erfährt, dass ein Mannheimer Arzt – wegen seiner nichtjüdischen Frau verschont – sich freiwillig dem Deportationszug der Juden angeschlossen habe, empfindet sie Gewissensdruck: „dass auch ich die Vertriebenen hätte begleiten sollen“. Weil ihr Einsatz für Verfolgte nicht unbemerkt bleibt, bekommt sie mehrmals Gestapo-Besuch, einmal schreit ein Beamter sie an: "Warum ich denn nicht selber auswanderte, da mir die Regierung so wenig zu passen schien. „Weil ich 67 Jahre alt bin und meinem Lande immer treu gedient habe.“ Er entwich, Schwefelgeruch hinter sich zurücklassend.“
Nach Kriegsende nimmt Marie Baum ihre Vorlesungen über Sozialpolitik in Heidelberg wieder auf, wo sie bis zu ihrem Tod im 91. Lebensjahr wohnen wird. Sie gehört mit Alexander Mitscherlich und Dolf Sternberger zu den Gründern des Aktionskomitees „Freier Sozialismus“, sieht sich politisch der SPD nahe, ohne Parteimitglied zu werden. Zu ihren Publikationen seit 1906 („Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe“) zählen Bücher über Familienfürsorge, die Edition des Tagebuchs der Anne Frank (1950) und Würdigungen Ricarda Huchs, ihrer besten Vertrauten in mehr als fünf Jahrzehnten. Durch ihre Freundin, die Dichterin, hatte sie selbst das Interesse an Geschichtsschreibung entdeckt und den persönlichen Zugang zum christliche Glauben – im Sinne des Augustinus-Wortes „Liebe und tue was du willst“.